ADHS bei Kindern – Expertinneninterview

Lernprobleme

Im Gespräch mit Bettina Kinn

Die Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung, abgekürzt ADHS, kann für Schwierigkeiten in der Schule, aber auch in Freundschaften und Beziehungen sorgen. Wir wollen in diesem Monat deshalb das Bewusstsein für die Bedürfnisse betroffener Kinder und Jugendlicher und ihres Umfelds schärfen. Mit der Expertin Bettina Kinn von unserem Kooperationspartner, dem Forum Legasthenie und Dyskalkulie, sprechen wir über die komplexe Aufmerksamkeitsstörung.

Bettina Kinn, ADHS ist in letzter Zeit auf Social Media sehr präsent, Journalist*innen fragen mitunter „Warum haben auf TikTok plötzlich alle ADHS?“. Aber was ist ADHS eigentlich? Und sind wirklich so viele junge Menschen davon betroffen?

Hinter ADHS verbirgt sich tatsächlich eine der häufigsten psychischen Auffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen. Heute wird angenommen, dass etwa jedes 20. Schulkind von ADHS betroffen ist. Typische Symptome sind Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität. Man spricht von ADHS, wenn diese Symptome vor dem siebten Lebensjahr auftreten, über sechs Monate anhalten und in zwei Lebensbereichen auftreten. Der Oberbegriff ADHS umschreibt übrigens auch die Ausprägung der Erkrankung, bei der keine hyperaktiven Verhaltensweisen, sondern nur Aufmerksamkeitsstörungen vorliegen. Kinder, die davon betroffen sind, wirken oft verträumt. Es fällt ihnen schwer, sich auf eine Sache zu konzentrieren und sie lassen sich leicht ablenken. Sie sind aber nicht zappelig.

ADHS ist also keine Modeerkrankung des 21. Jahrhunderts, wie manche behaupten?

Nein, ADHS gibt es schon lange, es wurde nur nicht so benannt. Der Frankfurter Arzt Heinrich Hoffmann hat zum Beispiel in seinem berühmten Buch „Struwwelpeter“ mit den Figuren des Zappelphilipp und des Hanns Guck-in-die-Luft die typischen Erscheinungsformen von ADHS schon im 19. Jahrhundert beschrieben.

Für welche Probleme sorgt ADHS im Alltag der betroffenen Kinder und Jugendlichen?

ADHS-Symptome führen zu Schwierigkeiten in der Schule, das liegt auf der Hand. Denn die Kinder und Jugendlichen haben Lern- und Konzentrationsstörungen. Sie haben außerdem Probleme damit, sich ihre Zeit einzuteilen und sich zu motivieren. Prüfungen setzen sie enorm unter Stress. Auch in der Familie, in Freundschaften und mit Klassenkamerad*innen kann es schwierig werden, weil impulsives Verhalten als rücksichtslos wahrgenommen wird, Unaufmerksamkeit als respektlos. Das belastet die Kinder und Jugendlichen sehr. Ich erinnere mich an einen Jungen, den ich in einer Therapiestunde gefragt habe, wie er sich fühlt. Er sagte, dass er immer den Eindruck habe, mit dem Rücken zur Wand zu stehen. Die anderen Kinder würden sagen „Du störst uns immer“ oder „Du bist immer schuld, wenn etwas schiefgeht und es Stress gibt“. Und sein größter Wunsch war es, so zu sein wie die anderen.

Diese Schilderung zeigt eindrücklich, dass ADHS für viele Kinder und Jugendliche sehr belastend sein kann. Die Diagnose ist zudem häufig mit einer Stigmatisierung verbunden. Ich möchte an dieser Stelle gerne die Perspektive wechseln und fragen: was können junge Menschen mit ADHS denn besonders gut?

Die positiven Aspekte von ADHS in den Fokus zu rücken, finde ich ganz wichtig. Kinder und Jugendliche mit ADHS können Verantwortung übernehmen und sind hilfsbereit, sie zeigen zudem Einsatzbereitschaft, sind begeisterungsfähig und haben viel Fantasie. Sie können auch Spezialwissen erwerben und mitteilen, leidenschaftlich sammeln oder Fehler suchen. Sie können komplizierte Konstruktionen erstellen oder Schach spielen. Und da kommt oft die Frage: Wie kann das sein? Es ist einfach so, dass der stärkere Reiz immer dominiert. Das heißt, wenn ein Kind sich für etwas wirklich interessiert, dann kann es sich darauf auch länger konzentrieren und tolle Leistungen erbringen.

Fachärzte sind sich inzwischen einig darüber, dass es sich bei ADHS um eine Störung im Gehirn handelt. Was läuft bei ADHS im Kopf anders?

In einem Gehirn ohne ADHS regulieren Botenstoffe, das sind die Neurotransmitter, die Weiterleitung von Signalen zwischen den Hirnzellen. Sie leiten Informationen weiter, die steuern, wie wir etwas erleben und wie wir uns verhalten. Die Botenstoffe Dopamin und Noradrenalin sorgen zum Beispiel dafür, dass wir wach und motiviert sind und unsere Aufmerksamkeit gezielt fokussieren können. In einem „ADHS-Gehirn“ stehen Dopamin und Noradrenalin dort, wo sie benötigt werden, nicht in ausreichender Menge zur Verfügung. Und das hat Folgen: Zum einen werden Reize anders verarbeitet, Menschen mit ADHS nehmen ihre Umgebung also anders wahr. Zum anderen können sie ihr Verhalten weniger gut steuern und kontrollieren. Sie sind impulsiver oder schneller abgelenkt.

An dieser Stelle wirken im Zweifel auch ADHS-Medikamente, die Ärzt*innen verordnen, oder?

Genau, ADHS-Medikamente können vorübergehend den Botenstoffhaushalt im Gehirn beeinflussen. Konzentrations- und Leistungsfähigkeit können gesteigert werden bzw. die Kinder lassen sich nicht mehr so leicht von neuen Reizen ablenken. An dieser Stelle ist mir wichtig zu erwähnen, dass ADHS-Medikamente nur in einer bestimmten Dosierung wirksam sind und dass durch sie keine nachhaltigen Veränderungen erzielt werden können. Ob ein Kind tatsächlich eine Medikation benötigt, sollten die Eltern vertrauensvoll mit einem erfahrenen Arzt oder einer erfahrenen Ärztin besprechen. Die Gabe von Medikamenten allein ist in meinen Augen nicht sinnvoll. Den Kindern sollte immer auch ein Verhaltenstraining angeboten werden.

Welche Trainingsmöglichkeiten gibt es? Und können diese nachhaltige Veränderungen erreichen?

Es gibt verschiedene Konzentrationstrainings wie das Marburger Konzentrationstraining oder das „Attentioner“-Training. Beim „Attentioner“ werden neuropsychologische und verhaltenstherapeutische Elemente mit dem Ziel kombiniert, die Aufmerksamkeitssteuerung von Kindern zu verbessern. Sie sollen lernen, irrelevante Reize auszublenden und sich auf relevante Informationen besser zu konzentrieren. Außerdem wird das Sozialverhalten geübt. Denn das Training findet in Gruppen von vier bis sechs Kindern mit zwei Therapeut*innen statt. Verhaltenstherapien, die einzeln durchgeführt werden, haben immer den großen Nachteil, dass keine Interaktion mit anderen Kindern stattfindet. Und die meisten Probleme bei ADHS entstehen ja im Zusammensein mit anderen Menschen.

Wie steht es um Neurofeedback im Zusammenhang mit ADHS? Davon habe ich auch schon gehört.

Das ist auch ein gutes Therapiekonzept. Beim Neurofeedback wird mit Hilfe eines EEG, also eines Elektroenzephalogramms, die Gehirnaktivität gemessen und an die Kinder z.B. über einen Monitor zurückgemeldet. Während das EEG läuft, bekommt das Kind also das Feedback, wann sein Gehirn wie arbeitet. Es lernt dadurch, sein Gehirn in die bestmögliche Funktionsweise zu bringen. Neurofeedback fördert so die Konzentration, die Aufmerksamkeit sowie die Lernmotivation. Es kann auch dabei helfen, Prüfungsängste, Schlafstörungen oder stressbedingte Probleme zu überwinden.

ADHS ist eine Belastung für die betroffenen Kinder und Jugendlichen, aber auch eine Herausforderung für das Umfeld. Was ist ihr wichtigster Tipp?

Die ADHS-Diagnose und die Therapie dürfen nicht zum Lebensmittelpunkt werden. Es gibt auch ein Leben neben der Therapie und neben der Schule. Und es muss auch gelacht werden zu Hause. Am wichtigsten und wertvollsten ist es doch, Zeit mit dem Kind zu verbringen.

Herzlichen Dank für die vielen Informationen zu ADHS, Bettina Kinn. Für Eltern und Lehrkräfte haben Sie außerdem konkrete Tipps zur Unterstützung von Kindern und Jugendlichen mit ADHS zusammengestellt. Die wertvollen Tipps gibt es hier.

Das Interview führte unsere Stiftungsleiterin Melanie Dries.

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Weitere Informationen zum Thema finden Sie beim ADHS Deutschland e.V. oder auf der Website unseres Kooperationspartners, dem Forum Legasthenie und Dyskalkulie. Außerdem spannend: unsere Tipps zum Umgang mit ADHS.

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Weitere Informationen zum Thema finden Sie beim ADHS Deutschland e.V. oder auf der Website unseres Kooperationspartners, dem Forum Legasthenie und Dyskalkulie. Außerdem spannend: unsere Tipps zum Umgang mit ADHS.

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