Fatou meistert ihr Leben eigentlich ganz gut – mit Ausnahme von Zahlen: Selbst Uhrenlesen fällt iIhr schwer. Sie trifft auf viel Unverständnis und Vorurteile Zuhause, in der Schule, durch Freund*innen. Ihr Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen – angeknabbert. Dann endlich die Diagnose: Dyskalkulie. Ab hier fällt ihr letztlich ein Stein vom Herzen. Auch ihre Familie und Freund*innen können nun besser verstehen, wie es Fatou geht. Durch lerntherapeutische Unterstützung kann die Schülerin Schritt für Schritt Mathematik neu erlernen.
So wie in der Grimme-Preis nominierten Jugend-Web-Serie DRUCK, deren fiktiver Charakter Fatou ist, geht es vielen Kindern und Jugendlichen. Hier erfahren Sie mehr über das Thema.
Aber was ist Dyskalkulie überhaupt? Häufig bleibt sie unentdeckt, auch weil sie nicht besonders bekannt ist. Während sich eine Legasthenie beim Kind fächerübergreifend bemerkbar macht, bezieht sich die Auffälligkeit in erster Linie auf das Fach Mathematik. Als Rechenschwäche oder Rechenstörung abgetan, werden Anzeichen dadurch häufig übersehen. Eltern erhoffen sich schnellen Erfolg durch Mathe-Nachhilfe und stellen nicht selten frustriert fest, dass diese nicht hilft.
Mathematik kann glücklich machen, auch Kinder mit Dyskalkulie.
Laut Sabine Behrendt, Vorsitzende des hessischen Landesverbandes für Legasthenie und Dyskalkulie, sind nach neuester Forschung rund drei bis fünf Prozent aller Kinder und Jugendlichen von einer Dyskalkulie betroffen. Um Kinder mit Dyskalkulie nachhaltig zu unterstützen, bedarf es einer speziellen Lerntherapie. So befindet Bettina Kinn, Leiterin des Forums Legasthenie und Dyskalkulie in München, „Mathematik kann glücklich machen, auch Kinder mit Dyskalkulie“. Melanie Dries, Leiterin für Kommunikation und Fundraising der Chancenstiftung, hat Bettina Kinn dazu interviewt. Das gesamte Interview zum Thema Dyskalkulie finden Sie auf unserem Blog.
Was ist Dyskalkulie und wie äußert sie sich?
Eine Dyskalkulie bezieht sich vor allem auf die Grundrechenarten Plus, Minus, Mal und Geteilt. Dabei fehlt den betroffenen Kindern das Gefühl für Mengen und Zahlen. Annette Höinghaus, Verantwortliche für die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit beim Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie (BVL), vergleicht in einem Interview mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland Zahlen aus der Sicht von betroffenen Kindern mit chinesischen Schriftzeichen. Alles, was den Zehnerzahlenraum verlässt und nicht mehr mit Fingern abzuzählen ist, löst Schwierigkeiten aus.
Bettina Kinn erläutert, dass betroffene Kinder häufig Strategien wie das Auswendiglernen des Einmaleins entwickeln, um diese Schwierigkeiten zu kompensieren. Problematisch wird es, wenn das Kind älter wird und mathematische Inhalte aufeinander aufbauen. Diese Mehrdimensionalität führt zu immer größeren Lücken, bei denen Kompensationsstrategien irgendwann nicht mehr mithalten können.
Der BVL hebt hervor, dass die numerischen Fähigkeiten unabhängig von Intelligenz und anderen Kompetenzen sind, weshalb betroffene Kinder in anderen Fächern häufig keine Probleme aufweisen. Eine Dyskalkulie hat neurobiologische Ursachen, die als komplex betrachtet werden und als noch nicht vollständig geklärt gelten. Annette Höinghaus weist auf das Problem hin, dass Lernstörungen bisher kaum in pädagogischen Ausbildungen thematisiert werden. Auch deshalb können viele Lehrkräfte nicht adäquat reagieren. Der Impuls zum Umgang mit Störungen geht also zumeist von den Eltern aus.
Woran können Eltern eine Dyskalkulie erkennen und ihr Kind unterstützen?
Nicht selten reagieren Eltern mit Druck und Frust und Rechenschwäche-Sorge, wenn Mathe-Nachhilfe nicht die erwünschten Erfolge erzielt. Der BVL erläutert in seinen Tipps für Eltern die Tragweite des Themas bei Kindern. Um die Matheangst nicht noch zu verstärken, sind Verständnis und Rückhalt seitens der Familie elementar.
Bettina Kinn gibt Hinweise, wie Eltern eine Dyskalkulie besser erkennen können. Sie legt dar, wie Kinder dann auch bei kleinen Mengen bis fünf zählen müssen oder den Stellenwert von Einer, Zehner und Hunderter nicht auseinanderhalten können. Bei solchen Symptomen sind auch Eselsbrücken nur wenig hilfreich und werden nach kurzer Zeit wieder vergessen.
Wenn ein Befund erstmal medizinisch diagnostiziert wurde, kann eine gezielte Lerntherapie Entlastung bedeuten und Fortschritte erzielen. Auch dabei ist die Rolle der Eltern von großer Bedeutung. Sie lernen im Rahmen einer Lerntherapie wie sie nachhaltig und konstruktiv mit Hilfe von Strategien und Anschauungsmaterialien ihr Kind beim Lernen unterstützen können und durch solche Förderung Mathematik wieder Spaß machen kann.
Optimistisch bleiben – mit der richtigen Lerntherapie
Wer sich einmal in der Negativspirale befindet, mag dem Satz, dass Mathematik plötzlich wieder Spaß machen kann, kaum Glauben schenken. Bettina Kinn ist nach 30 Jahren Berufserfahrung in diesem Feld hoffnungsvoll und optimistisch. In ihrer Erfahrung kann eine Therapie dabei unterstützen, ein Verständnis für Mathematik zu entwickeln und kognitiv zu durchdringen. Sie berichtet: „Ich habe eine Schülerin, die meine Therapie seit der vierten Klasse besucht und jetzt als Siebtklässlerin am liebsten den ganzen Tag rechnen würde.“
Durch die Dyskalkulie-Therapie habe ich mich sehr verbessert, sodass ich es in die Realschule geschafft habe.
Auch die Chancenstiftung durfte solche positiven Entwicklungen miterleben. Bei unserer Stipendiatin Munira (13 Jahre) wurde in der fünften Klasse eine Dyskalkulie diagnostiziert. Sie berichtet: „In der Grundschule hatte ich viele Probleme mit Mathe. Ich habe versucht, mich zu verbessern mit viel Lernen und mit Nachhilfekursen. Meine Noten wurden aber leider nicht besser. Dann haben wir von meiner Dyskalkulie erfahren.“ Mithilfe einer gezielten Lerntherapie für die Diagnostik konnte Munira von der Orientierungsstufe auf die Realschule wechseln. „Durch die Dyskalkulie-Therapie bei Frau Kinn habe ich mich sehr verbessert, sodass ich es in die Realschule geschafft habe. Ich bin sehr froh, dass ich die Möglichkeit habe, an dieser Therapie teilzunehmen.“
Wir möchten mehr Kindern mit Dyskalkulie eine positive Entwicklung ermöglichen und Bewusstsein für das Thema schaffen. Bettina Kinn begreift Dyskalkulie nicht als eine Rechenschwäche, sondern vielmehr als eine „Variante der Begabung“. Es sind Kinder mit großen Talenten, denen bei einer lerntherapeutischen Begleitung nichts im Wege steht.