Legasthenie – nicht selten fühlen sich Eltern überfordert, wenn es nach einer Testung ihrer Kinder mit Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben zu dieser Diagnose kommt. Sie wissen nicht, wie sie damit umgehen sollen und bangen um die Zukunft ihrer Kinder. Dabei gibt es für legasthene Kinder gezielte und effektive Förderung durch spezielle Lerntherapie und die Schulung der Eltern. Einen Überblick gibt der folgende Artikel und das mit ihm verbundene Expertinneninterview.
Legasthenie betrifft laut dem Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie e.V. in etwa vier Prozent der Schülerinnen und Schüler in Deutschland. Es herrschen allerdings immer noch viele Desinformationen, Mythen und Vorstellungen von Heilung vor. Um der Bedeutung des Themas gerecht zu werden, hat der Bundesverband zusammen mit der Deutschen Kinderhilfe vor fünf Jahren den bundesweiten Aktionstag der Legasthenie und Dyskalkulie am 30. September ins Leben gerufen. Diesen zum Anlass nehmend hat die Leiterin für Kommunikation und Fundraising der Chancenstiftung, Melanie Dries, ein Interview mit Bettina Kinn, Leiterin des Forums Legasthenie und Dyskalkulie in München, geführt. Auf unserem Blog finden Sie das gesamte Interview zum Thema Legasthenie.
Legasthenie, Lese-Rechtschreibstörung, Dyslexie oder Lese-Rechtschreibschwäche?
Legasthenie wird bei der Definition häufig synonym mit der Lese-Rechtschreibstörung, der Dyslexie oder auch Lese-Rechtsschreibschwäche (LRS) verwendet. Bettina Kinn weist darauf hin, dass sie den Begriff der „Störung“ oder „Schwäche“ vermeidet. Laut des Instituts für integrative Lerntherapie und Weiterbildung können derartige Begrifflichkeiten stigmatisierend wirken, indem sie Kinder glauben lassen, dass medizinisch kein Zugang zum Lesen und Schreiben gegeben wäre. Das könne nicht selten zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung führen, die jegliche Art der Therapie erschwere. Bettina Kinn bezeichnet Legasthenie deshalb lieber als eine „Variante der Begabung“.
Es ist schwer für mich, Sachen zu lesen oder zu schreiben. – Enesa, 10 Jahre
Was ist die Ursache einer Legasthenie bei Kindern?
Laut aktueller Forschung werden vor allem Verarbeitungsstörungen auditiver (und zum Teil visueller) Informationen als ursächlich erklärt. In Folge dessen ist es für Kinder schwer, bestimmte Buchstaben den entsprechenden Lauten zuzuordnen und umgekehrt. Zudem lassen Familienuntersuchungen auf eine genetische Veranlagung schließen. Nicht selten wird Legasthenie außerdem durch andere Beeinträchtigungen begleitet, wie dem Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom mit und ohne Hyperaktivität oder Angststörungen sowie Despressionen.
Die richtige Diagnostik einer Legasthenie bei Kindern
Dass bei Kindern eine Legasthenie vorliegt, wird häufig erst beim Lesen- und Schreibenlernen in der Schule erkannt. Legasthene Kinder machen häufig viele wiederkehrende Fehler in der Rechtschreibung, bspw. durch das Verdrehen von Buchstaben. Nicht selten führt das zu Vermeidungsstrategien und einer auffälligen Unlust zum Lesen und Schreiben. Gleichzeitig kann das vor allem anfänglich zu Kompensationsstrategien führen, indem Kindern versuchen, möglichst alles auswendig zu lernen. Das Forum Legasthenie und Dyskalkulie spricht auch deshalb die Empfehlung aus, der vorschulischen Förderung ein größeres Gewicht beizumessen. Laut Bettina Kinn sollten Eltern sich immer zuerst an die Lehrkraft wenden. Nicht selten gibt es an Schulen eine*n Schulpsycholog*in, der*die die Legasthenie diagnostizieren kann.
Die richtige Förderung und was Eltern tun können
Durch Mundpropaganda und Recherche zum Erfahrungsschatz und zur Ausbildung der jeweiligen Therapeut*innen kann die richtige Begleitung und Förderung für legasthene Kinder gefunden werden. Diese beinhaltet dann auch die Schulung der Eltern. Nicht zuletzt ist die Elternarbeit von besonderer Bedeutung, da Kinder häufig schon durch die Schule genügend Ablehnung und Unverständnis erfahren. Bettina Kinn, selbst Therapeutin und Ausbilderin für Lernstörungen, berichtet, dass das Üben mit ständigen Verbesserungsversuchen und Fokus auf die gemachten Fehler häufig eher zur Demotivation führe. Stattdessen sei es wichtig, das Selbstvertrauen zu stärken und Erfolgserlebnisse zu verschaffen. Sie arbeitet mit einer Art „Reframing“: die Farbe Rot steht bei ihr nicht für die Fehlerquote, sondern ist positiv konnotiert, indem sie Kindern zeigt, was sie gut gemacht haben.
Ich habe das Jahr geschafft und im neuen Schuljahr auch schon gute Noten bekommen. – Enesa, 10 Jahre
Die Träume der Kinder können trotz Legasthenie wahr werden
Enesa, heute zehn Jahre alt, hat ein Stipendium der Chancenstiftung erhalten und wurde währenddessen von Bettina Kinn betreut. Sie schreibt in einem Motivationsbrief an die Chancenstiftung:
„Ich habe Probleme mit dem Lesen und Schreiben. Es ist schwer für mich, Sachen zu lesen oder zu schreiben. Ich verstehe manche Sachen nicht und dann brauche ich Hilfe, aber ich will auch Sachen alleine schaffen. […] Ich habe sehr viel gelernt und auch während der Corona-Zeit mit Frau Kinn online geübt. Ich habe das Jahr geschafft und im neuen Schuljahr auch schon gute Noten bekommen“.
Bettina Kinn bestätigt, dass Enesa sehr viel besser und flüssiger lese und auch ihren Wortschatz und Satzbau erweitert hätte, was zu mehr Selbstwertgefühl und einer größeren Lernmotivation geführt habe. Enesa schreibt uns außerdem: „Wenn ich mit der Schule fertig bin, möchte ich gerne Ärztin werden“.
Mit der „Variante der Begabung“ weist Bettina Kinn auf die großen Talente, die legasthene Kinder oftmals haben, hin. Mit 30 Jahren Berufserfahrung sagt sie aus Überzeugung, dass den individuellen Berufswünschen der Kinder bei guter Begleitung während der Schulzeit nichts im Wege stehe. Um diese zu gewährleisten ist nicht nur eine bessere Aufklärung, sondern auch ein besserer Umgang mit Legasthenie und betroffenen Kindern elementar. Auch deshalb möchten wir den Aktionstag Legasthenie und Dyskalkulie für die Schaffung von mehr Bewusstsein nutzen.