Dyskalkulie bei Kindern – Expertinneninterview

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Im Gespräch mit Bettina Kinn

„Mathematik kann glücklich machen, auch Kinder mit Dyskalkulie“, das findet Bettina Kinn. Sie leitet das Forum Legasthenie und Dyskalkulie in München und arbeitet seit über 30 Jahren als Therapeutin für Kinder mit Lese-Rechtschreib- und Rechenschwäche. Von einer „Schwäche“ spricht Bettina Kinn jedoch ungern, sie bezeichnet Legasthenie und Dyskalkulie lieber als „Varianten einer Begabung“. In diesem Interview unterhalten wir uns mit ihr darüber, wie Eltern und Lehrer*innen eine Dyskalkulie erkennen und betroffenen Kindern helfen können.

Frau Kinn, die Dyskalkulie ist weniger bekannt und weniger gut erforscht als die Legasthenie. Woran liegt das?

Bei der Legasthenie ist es so, dass sich die Probleme des Kindes in allen Schulfächern bemerkbar machen. Denn lesen und schreiben zu können, ist für alle Fächer relevant. Gibt es hier Probleme, ist der Schulerfolg stark gefährdet. Die Dyskalkulie dagegen bezieht sich in erster Linie auf das Fach Mathematik, also auf die Grundrechenarten Plus, Minus, Mal und Geteilt. Wenn ein Kind nur in Mathematik schlechte Leistungen zeigt, kann es trotzdem versetzt werden. Außerdem entwickeln viele betroffene Kinder Strategien und lernen das Einmaleins zum Beispiel einfach auswendig.

Die Anzeichen für eine Dyskalkulie werden oft übersehen und die betroffenen Kinder im Fach Mathematik dann als schwach oder gar faul abgestempelt.

Ist es entsprechend schwer, eine Dyskalkulie festzustellen?

Ja, die Anzeichen für eine Dyskalkulie werden meiner Erfahrung nach oft übersehen und die betroffenen Kinder im Fach Mathematik dann als schwach oder gar faul abgestempelt. Es gibt natürlich standardisierte Tests wie bei der Legasthenie auch. Die Herausforderung bei der Mathematik aber ist, dass sie sozusagen mehrdimensional ist. Damit meine ich: Man muss nicht nur eine ganze Reihe verschiedener mathematischer Dinge beherrschen, sie bauen auch aufeinander auf. Je älter das Kind also wird, desto größer werden auch seine Lücken.

Es ist also wichtig, eine Dyskalkulie frühzeitig zu erkennen. Woran können Eltern merken, ob ihr Kind womöglich von einer Rechenschwäche betroffen ist?

Kinder mit Dyskalkulie sind sprachlich oft sehr begabt, haben aber eine große Aversion gegen Mathematik. Das steht in Diskrepanz. Ein weiterer Hinweis auf eine Dyskalkulie: Die Eltern üben mit den Kindern Strategien oder Eselsbrücken in Sachen Mathe ein, die Kinder können sie schon wenig später aber nicht mehr abrufen. Oft haben die Kinder auch Probleme damit, schon kleine Mengen zu erfassen. Menschen mit Mengen- und Zahlenverständnis erkennen kleine Mengen bis fünf zum Beispiel automatisch. Kinder mit Dyskalkulie müssen hier zählen. Problematisch ist für betroffene Kinder in der Regel auch das Erkennen des Stellenwerts. Also, ganz rechts sind die Einer, dann kommen die Zehner und dann die Hunderter.

Für Kinder mit Dyskalkulie ist eine auf sie zugeschnittene Therapie wichtig.

Bei Problemen in Mathe ist häufig ein Nachhilfeinstitut die erste Anlaufstelle vieler Eltern. Ist die klassische Nachhilfe die beste Lösung für Kinder mit Dyskalkulie?

Für Kinder mit Dyskalkulie ist eine auf sie zugeschnittene Therapie wichtig. Das ist im Rahmen einer klassischen Nachhilfe, vor allem in der Gruppe, in der Regel nicht zu leisten. Dort lernt das Kind dann meistens Rechenverfahren auswendig, erlangt aber kein wirkliches Verständnis für die Mathematik. Es addiert zum Beispiel zwei Zahlen, versteht aber nicht, dass es Einer, Zehner und Hunderter addiert. Es weiß also nicht, was eigentlich ein Stellenwertsystem ist. Es hat auch Probleme damit, Transferleistungen zu erbringen. Es lernt beispielsweise Malaufgaben auswendig. Wenn ich aber drei Eierkartons mit jeweils sechs Eiern hinstelle und frage „Wie viele Eier sind das?“, dann kann es sehr gut sein, dass das Kind die Eier zählen muss, um ein Ergebnis zu ermitteln.

Wie kann diese Therapie aussehen?

Eine erfolgreiche Therapie kann nur einzeln durchgeführt werden. Denn ich als Therapeutin muss das Kind immer fragen: „Wie bist du auf das Ergebnis gekommen?“, um herauszufinden, welche Strategie es angewandt hat. Eine gute Strategie für unser Beispiel mit den Eierkartons wäre, wenn das Kind sagt: „Aha, es sind drei Kartons, in jedem Karton sind sechs Eier, also rechne ich drei mal sechs gleich 18“. Zählt das Kind die Eier dagegen von eins bis 18 durch, ist das eine schlechte Strategie. Ausschlaggebend ist also nicht das (richtige) Ergebnis, sondern der Weg dorthin. Und als Therapeutin muss ich wissen, welchen Weg das Kind genommen hat, um ihm helfen zu können. In meinen Augen ist es außerdem wichtig, die Mathematik für die Kinder erfahrbar zu machen und sie mit ihrer Lebenswelt zu verknüpfen, sodass sie sie als wertvolles Werkzeug begreifen. Und ich setze sehr viele haptische Materialien ein, damit die Kinder die Rechenaufgaben mit einer Handlung verknüpfen können.

Welche Rolle kommt den Eltern im Rahmen einer Therapie zu, Stichwort „Elternarbeit“?

Ich zeige den Eltern nach jeder Therapiestunde, was das Kind gemacht und geschafft hat. Dann gibt es erstmal Lob von den Eltern, was für das Kind ganz wichtig ist. Denn vor Beginn der Therapie war das Mathe lernen mit den Eltern nicht selten frustrierend für das Kind. Ich zeige den Eltern außerdem, wie wir gearbeitet haben, damit es so zu Hause fortgesetzt werden kann und das Kind auch dort Erfolgserlebnisse hat. Und ich empfehle den Eltern, auch zu Hause mit ähnlichen Anschauungsmaterialien wie in der Therapie zu arbeiten. Das müssen keine teuren Materialien sein, sondern zum Beispiel die besagten Eierkartons und kleine Eier oder Plättchen. Ein weiterer Tipp ist, dass die Eltern darauf achten, die Aufgaben mit dem Kind zu versprachlichen, sie das Kind die Rechenoperation also aufsagen lassen.

Die Kinder müssen erfahren, dass auch sie Mathe lernen können, um die Negativspirale zu durchbrechen.

Welche Erfolge können Eltern und Kinder von einer Dyskalkulie-Therapie erwarten?

Wenn die Kinder frühzeitig, also in der Grundschule, zu mir kommen, können sie die weiterführende Schule, auch das Gymnasium, in der Regel gut meistern. Wenn sie mithilfe der Therapie ein Verständnis für die Mathematik entwickeln und sie kognitiv durchdringen, können auch Kinder mit Dyskalkulie richtig gut werden. Denn dann macht ihnen die Mathematik plötzlich Spaß. Und das ist das A und O. Die Kinder müssen erfahren, dass auch sie Mathe lernen können, um die Negativspirale zu durchbrechen. Ich habe eine Schülerin, die meine Therapie seit der vierten Klasse besucht und jetzt als Siebtklässlerin am liebsten den ganzen Tag rechnen würde. Mathematik kann also auch Kinder mit Dyskalkulie glücklich machen!

Das Interview führte Melanie Dries, Leiterin für Kommunikation und Fundraising bei der Chancenstiftung.

Infobox

Weitere Informationen zum Thema finden Sie beim Bundesverband Legasthenie & Dyskalkulie e.V. oder auf der Website unseres Kooperationspartners, dem Forum Legasthenie und Dyskalkulie. Außerdem spannend: unser Blogbeitrag zur Dyskalkulie.

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Weitere Informationen zum Thema finden Sie beim Bundesverband Legasthenie & Dyskalkulie e.V. oder auf der Website unseres Kooperationspartners, dem Forum Legasthenie und Dyskalkulie. Außerdem spannend: unser Blogbeitrag zur Dyskalkulie.

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