Nach der bitteren Bilanz des Nationalen Bildungsberichts – u.a. mehr Schulabbrecher, weiterhin sehr ungleich verteilte Bildungschancen – sagte Lehrerverbandspräsident Stefan Düll, die wachsende Einwanderung überfordere das System. Unter dem Hashtag #NichtMeinVerband äußerten daraufhin viele Lehrkräfte in den Sozialen Medien ihren Unmut über diese Aussage, die rassistische und rechtspopulistische Motive bediene.
Unsere Schüler*innen sind der Grund, warum wir diesen Beruf allen Schwierigkeiten zum Trotz mit Herzblut ausführen.
Da heißt es zum Beispiel „Nicht Zuwanderung überlastet unser Bildungssystem, sondern der jahrzehntelange Investitionsstau und der enorme Personalmangel. Unsere Schüler*innen sind der Grund, warum wir diesen Beruf allen Schwierigkeiten zum Trotz mit Herzblut ausführen. Wir stehen ein für Gleichberechtigung, ein solidarisches und respektvolles Miteinander und eine Willkommenskultur für alle Schutz- und Hilfesuchenden.“
Schlechte Bildung hat strukturelle Ursachen
Die Befunde zum Bildungserfolg von Kindern mit Migrationsgeschichte sind tatsächlich ernüchternd. So berichtet der Sachverständigenrat für Integration und Migration, dass „die schulischen Kompetenzen von jungen Menschen mit Migrationshintergrund weiterhin erheblich hinter denen von Gleichaltrigen ohne Migrationshintergrund zurückbleiben“. Sie verfehlen häufiger die Mindeststandards im Lesen, Schreiben und Rechnen und schaffen weniger oft einen Abschluss. Neueingewanderte schneiden besonders schlecht ab, aber auch die zweite Generation bleibt deutlich hinter ihren Altersgenossen ohne Migrationshintergrund zurück.
Der Lehrerverband sowie weitere Akteur*innen im Bildungssystem würden Kinder und Eltern mit Migrations- und Fluchterfahrung deshalb zum Sündenbock für die miserable Bildungssituation in Deutschland machen, erklärt das Bundeselternnetzwerk der Migrant*innenorganisationen für Bildung und Teilhabe (bbt) in seinem Positionpapier 2024. Darin heißt es weiter: „Dabei werden die zugrunde liegenden sozialen Strukturen ignoriert, was zu einer unangemessenen kulturalistischen Begründung von Bildungsungleichheiten sowie zu Stigmatisierungen und (weiteren) Viktimisierungen von Schüler*innen mit Migrationsgeschichte führt. Um eine gerechte Bildung für alle Schüler*innen sicherzustellen, ist es allerdings entscheidend, sich auf die strukturellen Ursachen im Bildungssystem zu konzentrieren“.
Die soziale Herkunft ist ausschlaggebend
Die Datenlage stützt die Analyse des bbt: Ab der zweiten Generation hemmt nicht mehr in erster Linie der Faktor Einwanderung den Schulerfolg, sondern die soziale Herkunft. Wenn Eltern gering qualifiziert, ohne Job oder von Armut bedroht sind, ist das für die Bildungschancen in Deutschland ein Nachteil. Von diesen Problemen besonders häufig betroffen: Kinder mit Einwanderungsgeschichte. Laut Nationalem Bildungsbericht wachsen 60 Prozent von ihnen in sozioökonomisch schwachen Verhältnissen auf. Bei den Kindern ohne Migrationshintergrund sind es nur 20 Prozent.
Hinzu kommt: Kinder aus sozioökonomisch schwachen Familien werden häufig schlechter bewertet als Kinder aus Akademiker*innen-Haushalten. Laut des Chancenmonitors 2023 gehen Kinder aus Elternhäusern mit weniger Geld und ohne Abitur deutlich seltener aufs Gymnasium als Kinder aus bessergestellten Haushalten mit Eltern, die selbst Abitur haben. Nur etwa jedes fünfte Kind (21 Prozent) mit zwei Elternteilen ohne Abitur und einem Haushaltsnettoeinkommen von unter 2600 pro Monat besucht demnach ein Gymnasium. Demgegenüber sind vier von fünf Kindern (80 Prozent) von Eltern, die beide Abitur haben und zusammen mehr als 5500 Euro netto haben, Gymnasiast*innen.
Der Sachverständigenrat für Integration und Migration hebt hervor, dass junge Menschen mit Migrationsgeschichte bei gleicher sozioökonomischer Lage sowie gleichem Bildungshintergrund der Eltern häufig sogar überdurchschnittliche Ergebnisse erzielen. Anders gesagt: Viele Kinder haben Probleme bezüglich ihrer Bildungslaufbahn, weil sie in prekären Lagen aufwachsen und ihre Eltern weniger kulturelles Kapital aufweisen und nicht weil sie aus Familien mit Migrationsgeschichte stammen.
Kritik an Kindern statt an Rahmenbedingungen
In der Schule werden Kinder mit und ohne Migrationsgeschichte, aus sozioökonomisch schwachen und starken Familien über viele Jahre hinweg gemeinsam von Pädagog*innen betreut. Ungleiche Startbedingungen werden ausgeglichen, alle Schüler*innen entwickeln sich zu mündigen Büger*innen, die ihr Leben aktiv gestalten können. Diesem Anspruch kann Schule in Deutschland seit Jahrzehnten nicht gerecht werden. Im Gegenteil: Lehrkräftemangel und Unterrichtsausfall, marode Schulgebäude und eine schlechte digitale Infrastruktur sorgen für noch mehr Stress in einem bereits angeschlagenen System. Schulen – und ihre Schüler*innen – in sogenannten „herausfordernen Lagen“ trifft es besonders hart. Sie haben die schwierigsten Voraussetzungen, müssen aber die größten Integrationsleistungen für die Gesellschaft erbringen. Es ist also nicht verwunderlich, dass der Sachverständigenrat für Migration und Integration an diesen Schulen sowohl ein niedrigeres Lernniveau als auch schlechtere Ergebnisse feststellt.
Kritisiert werden aber zu oft nicht die ungünstigen Rahmenbedingungen, sondern die vermeitlichen Defizite der Kinder. Nina Bremm, Professorin an der Universität Erlangen, hat im Ruhrgebiet, einer der ärmsten Regionen Deutschlands, 90 Schulen untersucht und diesen „Abwehrmechanismus“ sogar bei vielen Lehrkräften festgestellt. Da heiße es dann: „In diesem Umfeld, mit diesen Schülerinnen und Schülern, ist Lernen nicht möglich“, schildert sie in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Bremm sagt: Dies komme einer Selbstaufgabe der Pädagog*innen gleich. Und: Intelligenz sei über alle gesellschaftliche Gruppen gleich verteilt, unabhängig von Herkunft und Schicht. Deutschland aber leiste sich „ein Bildungssystem, das es versäumt, die Potentiale zu heben“.
„Ein selbstsicheres Mädchen“
Diese Potentiale zu heben, hat sich die Chancenstiftung zur Aufgabe gemacht. Kinder aus sozioökonomisch schwachen Familien werden als Stipendiat*innen über ein Jahr lang mit professioneller Nachhilfe unterstützt. Kinder mit Migrations- oder Fluchtgeschichte erhalten bei Bedarf zudem Unterricht im Bereich „Deutsch als Zweitsprache“ (DaZ). Einzige Voraussetzung für die Förderung durch die Chancenstiftung ist, dass die Familie eines Kindes nicht in der Lage ist, selbst für die Kosten des Unterrichts aufzukommen.
Das Förderprogramm der Chancenstiftung wirkt: Insgesamt verbessert sich die Hälfte der Schüler*innen während ihres Stipendiums um mindestens eine Zeugnisnote. Unabhängig vom Notenspiegel bescheinigen unsere Nachhilfelehrer*innen 72 Prozent der geförderten Kinder fachspezifische Verbesserungen. Mit Abschluss des Stipendiums sind die Kinder aber nicht nur besser in der Schule, sondern auch selbstbewusster und zielstrebiger, selbstständiger und zuverlässiger sowie konzentrierter.
Da heißt es dann im Abschlussbericht: „Muawiya zeichnet sich als neugieriger und ehrgeiziger Schüler aus. Seine Eigenständigkeit ist bemerkenswert. Er widmet sich inzwischen auch komplexen Aufgaben mit Sorgfalt und Genauigkeit. Auf diese Weise hat er sich in Deutsch und Mathematik verbessert.“ Oder: „Glory ist inzwischen ein selbstsicheres Mädchen, das sich der Gruppe gegenüber öffnen konnte. Durch zunehmend gute Noten hat sie sich selbst und andere für das Lernen motivieren können.“
Weitere Informationen zur Wirkung unserer Arbeit gibt es auch im aktuellen Wirkungsbericht.