Die Muttersprache oder auch Herkunftssprache bezeichnet eine Sprache, die innerhalb der Familie gesprochen wird, aber nicht unbedingt die Sprache der umgebenden Mehrheitsgesellschaft sein muss. Zur Einordnung der Größe und Bedeutung: Bei Kindern im Alter von 3 bis 6 Jahren in Deutschland sprechen etwa 23% eine andere Sprache als Deutsch in ihren Familien. Obwohl Sprachwissenschaftler*innen unlängst bestätigt haben, dass sich Mehrsprachigkeit im Kindesalter positiv auf das Erlernen weiterer Sprachen auswirkt, gibt es immer wieder kontroverse Diskussionen darüber.
Den Internationalen Tag der Muttersprache zum Anlass nehmend, hat die Stiftungsleiterin der Chancenstiftung, Melanie Dries, ein Interview mit Yasin Çakir, dem geschäftsführenden Vorsitzenden des Westfälischen Bildungs- und Kulturzentrums e.V., geführt. Der Verein setzt sich mit Bildung für ein gleichberechtigtes Zusammenleben von in Deutschland lebenden Menschen ein. Das gesamte Interview zum Thema Muttersprache finden Sie auf unserem Blog.
Forschungsergebnisse: Mehrsprachigkeit fördert den Bildungserfolg
Mehrsprachig aufzuwachsen galt lange als Nachteil. Dabei beurteilen Kritiker*innen Mehrsprachigkeit vor allem als Risikofaktor und argumentieren, dass bilingual oder mehrsprachig aufwachsende Kinder keine Sprache vollständig lernten. Eltern werden in der Folge nicht selten dazu aufgefordert, mit ihren Kindern zu Hause mehr Deutsch zu sprechen und Lehrkräfte sind verunsichert, ob und wie Mehrsprachigkeit in den Kita- oder Schulalltag integriert werden sollte.
Mittlerweile hat die Forschung aber das Gegenteil belegt: Die Förderung von Zweisprachigkeit führt eindeutig zu mehr Bildungserfolg. Denn Kinder, deren Erstsprache gut entwickelt ist, besitzen oftmals einen größeren Wortschatz und können die grammatischen Entwicklungsabschnitte in der Zweitsprache schneller durchlaufen. Studien haben auch ergeben, dass es grundsätzlich förderlich ist, wenn Bezugspersonen, wie die Eltern, in der Sprache mit den Kindern sprechen, mit der sie am besten Emotionen zum Ausdruck bringen können.
Dass trotz dieser Forschungsergebnisse immer wieder Kritik laut wird, liegt laut Yasin Çakir daran, „dass kulturelle Betrachtungsweisen sich nicht so schnell entwickeln wie pädagogische Ansätze und die Menschen selbst.“ Um uns von den traditionellen Denkmustern zu lösen, sind, so Çakir, eine offene Haltung, Beobachtungsfreude gegenüber Andersartigkeiten und die Lernbereitschaft von Forschungsergebnissen elementar.
Diskriminierung durch Sprache: Was ist Linguizismus?
Dabei schreibt der Diskurs um Mehrsprachigkeit Sprachen unterschiedliche Werte zu. Einige Sprachen erleben eine Aufwertung, wohingegen andere Sprachen eine Abwertung erfahren. Wenn Menschen aufgrund ihrer Sprache diskriminiert werden, wird dies als „Linguizismus“ bezeichnet. Eine strukturelle Diskriminierung liegt zum Beispiel dann vor, wenn Kinder, die bereits in jungen Jahren Englisch und Deutsch sprechen, für ihre Mehrsprachigkeit bewundert werden, und Kinder, die Arabisch und Deutsch sprechen, eine Abwertung für ihre Mehrsprachigkeit erleben.
Die Abwertung der Muttersprache kann bei Kindern zur Folge haben, dass sie sich mit einem wichtigen Teil ihrer Identität nicht akzeptiert fühlen. Yasin Çakir beschreibt, dass das bei Kindern wiederum zum Aufgeben ihrer Muttersprache führen kann, was „eine verpasste Chance für ihre zukünftige Entwicklung darstellt“. Deswegen ist es wichtig, so Çakir, die Schüler*innen zu stärken und dafür zu sensibilisieren, dass Mehrsprachigkeit eine wichtige Zusatzqualifikation auf ihrem Bildungsweg sein kann. Darin schult das Westfälische Bildungs- und Kulturzentrum nicht nur die Schüler*innen, sondern auch die Lehrkräfte.
Stärkung der Herkunftssprache von Kindern: Ein Fundament für die persönliche Entwicklung
„Sensibles Lehren, nicht nur im pädagogischen Sinne, gegenüber unterschiedlichen Lerntypen ist vielleicht der wichtigste Ausgangspunkt“, so Çakir. Er beschreibt, dass die Basis für die Entwicklung im Spracherwerb, der Respekt gegenüber den bestehenden Sprachkenntnissen der Kinder ist. Denn wenn die Herkunftssprache von Kindern Wertschätzung und Anerkennung durch das Umfeld erfährt, wird das Vertrauen der betreffenden Kinder in ihre kommunikativen Fähigkeiten und eigenen Stärken gefestigt.
Auch Eltern können ihre Kinder darin unterstützen, sich mit ihrer Muttersprache zu identifizieren und anerkannt zu fühlen. „Sprache ist keine Theorie, sie muss gelebt und erlebt werden.“, so Çakir. Neben der Wertschätzung gegenüber der Muttersprache ist es von besonderer Bedeutung, Situationen zu schaffen, in denen die Kinder ihre Sprachfähigkeiten spielerisch ausbauen können. Dabei helfen sowohl Freund*innen, mit denen sie in ihrer Muttersprache und Freund*innen, mit denen sie Deutsch sprechen können.
Wie die Gesellschaft Mehrsprachigkeit fördern kann
Die Bedeutung der Muttersprache für Kinder und Jugendliche mit Zuwanderungsgeschichte ist unbestreitbar. Sie dient nicht nur als Mittel zur Kommunikation, sondern auch als Schlüssel zur Identitätsbildung, familiären Bindung und kulturellen Vielfalt. Eine Gesellschaft, die die Viel- und Mehrsprachigkeit ihrer Bürger*innen wertschätzt und fördert, schafft einen Raum für vielfältige Perspektiven und ein gerechteres Miteinander.