Eine Sprache können, etwa mit deutsch die hiesige Landessprache beherrschen – oder eben nicht – was macht das mit einem Menschen? Mit dem Sprachniveau steigen nicht nur die Möglichkeiten zur erfolgreichen Teilhabe an Bildung, sondern es wird auch immer wieder der Effekt für das Zugehörigkeitsgefühl deutlich, das sich einstellt, wenn man Bedürfnisse, Wünsche, Sorgen oder Ängste seinem Umfeld auf Augenhöhe kommunizieren kann.
Nicht überraschend wird Sprachkompetenz so zu einem äußerst wichtigen Aspekt für gelingende Integration, sie ist gleichzeitig Wegbereiter für die große Vielzahl an Fähigkeiten und Fertigkeiten, die man letztlich nur durch sprachlichen Austausch vermittelt bekommt. Der Bogen spannt sich vom nahe liegenden Lesen und Schreiben über mathematische Fähigkeiten bis zum ganz allgemeinen Verhalten auf Jobsuche und während der Arbeit.
Was hat sprachliche Ausgrenzung mit Bildungsgerechtigkeit zu tun?
Sprachliche Ausgrenzung entsteht nicht nur durch die Begrenztheit der eigenen Wahrnehmung. Sie manifestiert sich oftmals schon im Kindesalter und steht in einem engen Zusammenhang zur Bildungs- und Chancengerechtigkeit. Um dem Ideal von Bildungsgerechtigkeit näher zu kommen, ist es wichtig zu wissen, wo, wie und für wen die Zugänge zum Bildungssystem erschwert werden. In Deutschland und Europa gibt es unterschiedliche Prüfungsverfahren zum Leistungsvergleich von Kindern und Jugendlichen. Die Prüfungsverfahren widmen sich unterschiedlichen Kompetenzbereichen mit gesetzten Mindeststandards und verfolgen aktuelle Bildungstrends.
Welche Rolle spielt Sprache für das Zugehörigkeitsgefühl und die verbundenen Chancen?
In ihrem Buch „Sprache und Sein“ vertritt die Autorin, Journalistin und Bloggerin, Kübra Gümüşay, das Anliegen, Sprache zu einem Zuhause für alle zu machen. Sprache kann ermöglichen, Sprache kann aber auch ausgrenzen. Sie präge aber in jedem Fall unser Denken und Sein ganz fundamental, so Kübra Gümüşay. In ihrem politischen Essay geht es der Autorin um die Begrenztheit der eigenen Wahrnehmung und um die Ausgrenzung, die Minderheiten durch den Sprachgebrauch und den öffentlichen Diskurs der Mehrheitsgesellschaft erfahren. Was braucht es, damit in einer Gesellschaft alle gleichberechtigt sprechen und sein können?
Die IGLU-Studie zeigt Herausforderungen für Kinder mit Migrationshintergrund auf
Im Mai 2023 wurde der Bericht der internationalen IGLU-Studie (Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung) 2021 veröffentlicht. Die IGLU-Studie misst in einem fünfjährigen Rhythmus das Leseverständnis von Schülern und Schülerinnen der 4. Jahrgangsstufe. Mit dieser Studie wird seit 2001 somit auch die Primarstufe international verglichen. Dabei waren die Ergebnisse in diesem Jahr von besonderem Interesse, weil sie Aufschluss über die Auswirkungen der Corona-Pandemie versprachen.
Der Bericht zeichnet einen negativen 20-Jahres-Trend, wonach die Lesekompetenz in Deutschland sukzessive gesunken ist. Dabei ist der Leistungsrückgang zwischen 2016 bis 2021 besonders auffällig. Der Anteil der getesteten Kinder, die nicht den international festgelegten Mindeststandard beim Lesen erreichen, ist im Vergleich zu 2016 stark gestiegen und liegt mittlerweile bei einem Viertel. Dabei verdeutlicht der Bericht, dass soziale und migrationsbedingte Unterschiede besonders ins Gewicht fallen. Denn Kinder, die zu Hause nur wenig oder gar kein Deutsch sprechen, schließen im Vergleich beim Lesen sehr viel schlechter ab als diejenigen Kinder, die zu Hause mit Deutsch aufwachsen. Laut des Berichts liegt der Leistungsnachteil bei etwa einem Jahr.
Zu den Leistungsunterschieden mischen sich aber auch die Vorurteile der Lehrkräfte, wie der aktuelle Bericht zeigt. Laut des Reports werden Kindern, die aus Akademiker*innen-Haushalten stammen, bei gleicher Lesekompetenz doppelt so häufig Gymnasialempfehlungen ausgesprochen wie Kindern aus Arbeiter*innenfamilien. Somit müssen diese mindestens 559 Punkte im Vergleich zu 510 Punkten für eine positive Prognose erreichen.
Alarmierende Ergebnisse erfordern „bildungspolitische Trendwende“
Nicht nur die Ergebnisse der IGLU-Studie, sondern auch die Ergebnisse des IQB-Bildungstrends von 2021, der die Kompetenzen von Kindern in der vierten Klasse in Deutsch und Mathematik überprüft, zeigen einen Negativtrend auf, der bereits vor der Pandemie eingesetzt hat. Auch hier kommt die Studie zu dem Ergebnis, dass die Schere zwischen Kindern aus privilegierteren Familien und Kindern aus sozioökonomisch benachteiligten Familien immer weiter auseinander driftet. 2019 war der Anteil der Schüler*innen mit Migrationshintergrund ohne Bildungsabschluss bspw. achtmal so hoch (12,8 Prozent) wie bei Schüler*innen ohne Migrationshintergrund (1,6 Prozent). Die fehlende Sprachkompetenz spielt dabei eine elementare Rolle.
Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger bezeichnet die Ergebnisse als alarmierend. Sie fordert indessen eine bildungspolitische Trendwende, die insbesondere die Basiskompetenzen, wie Lesen, Schreiben und Rechnen, in den Fokus nimmt. Auch Katharina Günther-Wünsch, Berliner Bildungssenatorin und Präsidentin der Kultusministerkonferenz, sieht die gesellschaftliche Teilhabe gefährdet und appelliert an Bund und Länder, schnell und nachhaltig Lösungen zu finden.
Was braucht es, damit in einer Gesellschaft alle gleichberechtigt sprechen und sein können?
Strukturelle Veränderungen und Lösungsansätze sind elementar und unverzichtbar, um Chancen zu ermöglichen. Um Sprache als Chance zu begreifen und der Utopie eines gleichberechtigten Sprechens und Seins in unserer Gesellschaft näherzukommen, gilt es aber auch die Begrenztheit der eigenen Wahrnehmung zu reflektieren und die Macht, die Sprache innewohnt, anzuerkennen.
Die Chancenstiftung fördert ganz konkret Sprachkenntnisse für gute Bildungs- und Zukunftschancen. Die Stiftung versucht, aktiv Lösungen zu gestalten. Denn nur wer die deutsche Sprache beherrscht, hat die Chance, erfolgreich an Bildung und Beschäftigung teilzuhaben. Vor allem im letzten Jahr ist die Zahl zugewanderter Kinder noch einmal gewachsen. Daraus ist das neue Projekt „Sprache als Chance“ der Chancenstiftung entstanden, das im April dieses Jahres an den Start gegangen ist. Das Projekt ermöglicht den Teilnehmenden über einen Zeitraum von 12 Monaten bundesweit Angebote zum Erlernen und Verbessern der deutschen Sprache in Anspruch zu nehmen.