Tag der Muttersprache – Interview mit Yasin Çakir

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Im Gespräch mit Yasin Çakir

Am 21. Februar ist der Internationale Tag der Muttersprache, ein von der UNESCO ausgerufener Gedenktag zur „Förderung sprachlicher und kultureller Vielfalt und Mehrsprachigkeit“. Wir nehmen den Tag zum Anlass, um auf die Bedeutung von Muttersprache und Mehrsprachigkeit für Menschen mit Migrationsgeschichte hinzuweisen. Ein Thema, das uns auch in der täglichen Arbeit begegnet. So sprechen die 500 Stipendiat*innen, die wir 2023 in unser Förderprogramm aufgenommen haben, 60 verschiedene Herkunftssprachen. Ein großer sprachlicher Reichtum, wie wir finden. Mit Yasin Çakir, dem geschäftsführenden Vorsitzenden des Westfälischen Bildungs- und Kulturzentrums e.V., haben wir über das wichtige Thema gesprochen.

Eine Abwertung der Muttersprache kann dazu führen, dass Kinder das Gefühl haben, dass ein wichtiger Teil ihrer Identität nicht akzeptiert wird.

Herr Çakir, in Deutschland leben Menschen aus rund 200 Nationen mit verschiedenen Mutter- bzw. Herkunftssprachen. Welche Bedeutung hat Ihre Muttersprache für Sie?

Meine Muttersprache ist ein wichtiger Teil meiner Identität. Ich wachse mit ihr auf und lerne damit zu sprechen, meine Gefühle auszudrücken, meine Kultur, meine Religion und vieles mehr. Auch das Schreiben erlerne ich möglicherweise in meiner Muttersprache. Durch sie schätze und liebe ich meine Familie, Bekannte und Freunde. Meine Muttersprache beeinflusst meine kognitive und psychische Entwicklung positiv.

Was macht es mit Kindern und Familien, wenn Sie eine Abwertung ihrer Muttersprache erfahren?

Eine Abwertung der Muttersprache kann dazu führen, dass Kinder das Gefühl haben, dass ein wichtiger Teil ihrer Identität nicht akzeptiert wird. Dies kann deprimierend sein und dazu führen, dass Kinder ihre Muttersprache aufgeben, was eine verpasste Chance für ihre zukünftige Entwicklung darstellt. Oftmals wird die zweite Sprache als störend empfunden, anstatt sie als Zusatzqualifikation zu schätzen.

Sprachwissenschaftlich ist es unbestritten, dass der Erwerb einer weiteren Sprache auf Grundlage der Muttersprache weitaus effektiver und nachhaltiger ist. Sollten Kinder mit Migrationsgeschichte demnach zuerst die Muttersprache lernen und dann Deutsch? 

Wir haben uns damals, meine Frau und ich, bei unserem ersten Kind entschieden, bis zum Kitastart nur Türkisch mit unserem Kind zu sprechen. Dafür gab es mehrere Gründe, besonders die zahlreichen sprachwissenschaftlichen Forschungsergebnisse, die zeigen, dass die Muttersprache eine wichtige sprachliche Basis für das Erlernen weiterer Sprachen bildet. Unser Kind sollte die Muttersprache zu Hause in einem natürlichen Umfeld erlernen und später in der Kita beide Sprachen wiederum in einem natürlichen Umfeld beherrschen. Unser Kind hat beide Sprachen erfolgreich von Muttersprachlern erlernt und beherrscht nun sowohl die türkische als auch die deutsche Sprache sehr gut.

Manche Sprachwissenschaftler*innen weisen auf die Gefahr hin, dass Muttersprache und Aufnahme- bzw. Zweitsprache nicht richtig erlernt werden, weil die Muttersprache z.B. nur bei den Kindern zu Hause gesprochen wird. Sollte das Erlernen beider Sprachen deshalb selbstverständlich im schulischen Alltag erlernt werden?

Natürlich beeinflusst es unsere Sprachkenntnisse, ob wir die Sprache von Muttersprachlern erlernen. Jedoch können diese geringen Defizite im Laufe der Zeit durch Lesen, Sprachlernaufenthalte und den Austausch mit anderen Sprachkennern behoben werden. Die Etablierung der Sprache im Schulsystem wäre eine Methode, aber eine noch bessere zusätzliche Idee wäre ein Sprachaufenthalt in den jeweiligen Ländern mit Teilnahme an einem dortigen Kurs. Ein Kurs, der besonders die Lernentwicklung von Kindern sensibel mitbedenkt.

Denken Sie, dass die Einführung des Muttersprachenunterrichts die Integration fördern würde. Wenn ja, inwiefern?

Die Förderung der Integration durch Muttersprachenunterricht verläuft eher beiläufig, weshalb man es vielleicht nicht direkt damit in Verbindung bringt. Wenn Kinder oder auch ältere Personen sehen, erleben und erfahren, wie wertvoll ihre Muttersprachkenntnisse aufgenommen werden, fühlen sie sich dazu gehörig. Im Gegenzug schätzen sie auch die deutsche Sprache mehr, weil sie sich dessen bewusst sind, dass sowohl ihre Muttersprache (Türkisch, Arabisch, Ukrainisch, Albanisch etc.) als auch die deutsche Sprache für sie enorm wichtige Zukunftskompetenzen darstellen.

In einer globalisierten Welt sind Sprachkompetenzen wertvolle Qualifikationen auf dem Arbeitsmarkt. Studien belegen zudem, dass Erwachsene, die früh mit zwei Sprachen Kontakt hatten, eine größere Konzentrations- und Aufmerksamkeitsfähigkeit besitzen und weitere Sprachen leichter lernen. Doch migrationsbedingte Mehrsprachigkeit gilt in Deutschland mitunter immer noch als Risikofaktor. Warum ist das so, was glauben Sie?

Die Tatsache, dass viele Menschen Mehrsprachigkeit immer noch als Risikofaktor betrachten, hängt stark damit zusammen, dass kulturelle Betrachtungsweisen sich nicht so schnell entwickeln wie pädagogische Ansätze und die Menschen selbst. Oftmals bleiben wir in den Paradigmen unserer kulturell geprägten traditionellen Denkmuster stecken. Es erfordert eine offene Haltung gegenüber Veränderungen, Beobachtungsfreude gegenüber Andersartigkeiten und Lernbereitschaft von Forschungsergebnissen. Die Realität spricht Bände. Hier würde ich gerne nur ein einziges Beispiel nennen: Betrachten Sie das Forschungsprojekt „Sprachliche Bildung und Mehrsprachigkeit“, das von 2013 bis 2020 von der Universität Hamburg, Institut für Interkulturelle und International Vergleichende Erziehungswissenschaft, durchgeführt wurde. Ich möchte kurz daraus zusammenfassen: Die durchgeführten Studien im Förderschwerpunkt zeigen, dass die Integration von Mehrsprachigkeit in den Unterricht keine negativen Effekte auf das fachliche oder sprachliche Lernen hat. Im Gegenteil, die Einbeziehung von Herkunftssprachen neben dem Deutschunterricht führt zu einer allgemeinen Steigerung der Sprachaufmerksamkeit, was sich positiv auf die Entwicklung bildungsrelevanter sprachlicher Kompetenzen auswirken kann.

Wie gehen Sie beim Westfälisches Bildungs- und Kulturzentrum e.V., abgekürzt WeBiKul, mit dem Thema um?

Wir versuchen sowohl Lehrkräfte als auch unsere Schüler*innen in Einzelgesprächen bzw. internen Austauschen darin zu stärken und zu sensibilisieren, dass Sprachen zusätzlich zur deutschen Sprache für die Kinder bedeutend sind und dass sie von Mehrsprachigkeit auf ihrem Bildungsweg als Zusatzqualifikation profitieren werden.

Haben Sie Tipps für Lehrkräfte, um dem Thema „Muttersprache“ bzw. „migrationsbedingte Mehrsprachigkeit“ besser gerecht zu werden?

Als Leiter einer Einrichtung, die einen besonderen Fokus auf Sprachförderung legt, habe ich gelernt, dass man erst einmal damit anfangen sollte, Respekt gegenüber den vorhandenen Sprachkenntnissen zu zeigen, da diese die Basis für unsere weitere Entwicklung im Spracherwerb darstellen. Sensibles Lehren, nicht nur im pädagogischen Sinne, gegenüber unterschiedlichen Lerntypen ist vielleicht der wichtigste Ausgangspunkt.

Was können Eltern tun, um die mehrsprachige Entwicklung ihrer Kinder zu unterstützen? 

Sprache ist keine Theorie, sie muss gelebt und erlebt werden. Außer dass auch die Eltern selbst wertschätzend gegenüber ihrer eigenen Muttersprache sein sollten, ist es wichtig, Kontexte zu schaffen, in denen die Kinder ihre sprachlichen Kenntnisse spielerisch ausbauen können. Sie brauchen auch Freunde, mit denen sie in ihrer Muttersprache sprechen können, genauso wie Freunde, mit denen sie nur auf Deutsch sprechen.

Was würden Sie sich von unserem Bildungssystem im Umgang mit migrationsbedingter Mehrsprachigkeit wünschen?

Ich würde mir wünschen, dass vor allem Lehrkräfte den Muttersprachen der Kinder respektvoll begegnen und dass bei den Kindern keine „Kritik“ hängenbleibt. Ich gehe noch einen Schritt weiter: Es wäre toll, wenn sie die Muttersprache der Kinder nicht nur respektieren, sondern auch wertschätzen würden. Dabei sollte jedoch beachtet werden, dass Kinder, die nicht mehrsprachig aufwachsen, nicht den Eindruck bekommen, es fehle bei ihnen etwas. Das wäre sogar kontraproduktiv.

Herzlichen Dank für das spannende Gespräch, Herr Çakir.

Das Interview führte unsere Stiftungsleiterin Melanie Dries.

Über unseren Interviewpartner

Yasin Çakir, 1984 in Köln geboren und aufgewachsen, hat sein Theologiestudium an der Ankara Universität mit einem Bachelor-Abschluss 2010 abgeschlossen und seinen Master in Religionswissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt am Main 2016 erlangt. Als Berater war er lange Jahre in der Flüchtlingshilfe, Extremismusprävention und Familienberatung tätig. Seit 2020 ist er geschäftsführender Vorsitzender von WeBiKul e.V. Zusätzlich zu seinem Engagement im interreligiösen Dialog seit 2013 unterstützt er benachteiligte Kinder und Jugendliche in Bildungsthemen. Zudem ist er seit 2011 aktiv im Main-Donau Verlag und in der Zeitschrift „Die Fontäne“. Seit 2022 führt Çakir gemeinsam mit einem katholischen und einem evangelischen Theologen aus Greven eine Kolumne in der Münsterischen Zeitung mit dem Titel „Gedanken zum Wochenende“.

Über unseren Interviewpartner

Yasin Çakır, 1984 in Köln geboren und aufgewachsen, hat sein Theologiestudium an der Ankara Universität mit einem Bachelor-Abschluss 2010 abgeschlossen und seinen Master in Religionswissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt am Main 2016 erlangt. Als Berater war er lange Jahre in der Flüchtlingshilfe, Extremismusprävention und Familienberatung tätig. Seit 2020 ist er geschäftsführender Vorsitzender von WeBiKul e.V. Zusätzlich zu seinem Engagement im interreligiösen Dialog seit 2013 unterstützt er benachteiligte Kinder und Jugendliche in Bildungsthemen. Zudem ist er seit 2011 aktiv im Main-Donau Verlag und in der Zeitschrift „Die Fontäne“. Seit 2022 führt er gemeinsam mit einem katholischen und einem evangelischen Theologen aus Greven eine Kolumne in der Münsterischen Zeitung mit dem Titel „Gedanken zum Wochenende“.

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